Die Karriere von Merve Karamara ist bislang alles andere als gewöhnlich. Die 29-Jährige aus Mittelfranken, deren Oma in den 1970er Jahren von der Türkei nach Deutschland kam, besuchte zunächst die Hauptschule. Über den M-Zweig absolvierte sie die Mittlere Reife und ging nach ihrem Abschluss auf die FOS. Nach ihrem Fachabitur im Wirtschaftszweig traute sie sich erst nicht zu studieren und begann eine Ausbildung zur Bauzeichnerin. In ihrem ersten Ausbildungsjahr bekam sie ein duales Studium angeboten, das sie an der TH Nürnberg absolvierte. Für ihren Master im Digitalen Bauen wechselte sie an die OTH Regensburg. Seit Oktober 2022 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin und PhD-Studentin im Bereich Bauautomatisierung und Bauproduktion mit Fokus Beton 3D-Druck bei Prof. Linner und Prof. Obergrießer
Als junge Türkin möchte sie in der konservativen Baubranche Akzente setzen. Für ihre Leistung wurde sie nun von „Netzwerk Chancen“ als „Inspiration of the Year“ nominiert. Die Nominierten in dieser Kategorie zeichnen sich dadurch aus, dass sie die Öffentlichkeit oder (soziale) Medien nutzen, um andere soziale Aufsteigerinnen und Aufsteiger dazu zu ermutigen, ihre Träume zu verfolgen und ihr volles Potenzial auszuschöpfen. Sie nutzen ihre Plattform, um anderen eine Stimme zu geben und für das Thema zu sensibilisieren.
Wir haben mit Merve Karamara über ihren Weg zur Promotion, ihre Familie und Hürden im Alltag gesprochen:
Frau Karamara, war es für sie ungewöhnlich als Arbeiterkind zu studieren bzw. zu promovieren?
Merve Karamara:Ja, es war definitiv ungewöhnlich. In meinem Umfeld war es nicht selbstverständlich, dass man studiert, geschweige denn promoviert. Viele meiner Freunde und Bekannten haben nach der Schule eine Ausbildung gemacht oder direkt angefangen zu arbeiten. Ein Studium schien für viele unerreichbar oder nicht greifbar, und die Tatsache, dass ich mich dafür entschieden habe, war eine bewusste Abweichung von dem, was in meinem Umfeld normal war. Diese Entscheidung war allerdings mit viel Unsicherheit verbunden, weil es keine Vorbilder gab, an denen ich mich orientieren konnte.
Wie sind sie aufgewachsen und hat ihre Familie sie bei ihrer Karriereentscheidung unterstützt?
Merve Karamara: Ich bin in einem traditionellen türkischen Haushalt aufgewachsen, in dem Bildung immer als etwas Wertvolles gesehen wurde, auch wenn es nicht selbstverständlich war. Meine Eltern haben hart gearbeitet, um uns ein gutes Leben zu ermöglichen, und obwohl sie selbst keine akademische Ausbildung hatten, haben sie mich stets ermutigt, meinen eigenen Weg zu gehen. Ihre Unterstützung war in erster Linie emotional – sie haben an mich geglaubt und mir das Vertrauen gegeben, dass ich alles schaffen kann, was ich mir vornehme. Auch wenn sie die akademische Welt nicht direkt verstanden haben, haben sie mich nie in Frage gestellt oder entmutigt.
Wann und aus welchen Gründen fiel bei Ihnen die Entscheidung für ein Studium und schlussendlich für die Promotion?
Merve Karamara: Die Entscheidung für ein Studium fiel bei mir bereits während der Schulzeit, da ich ein großes Interesse an technischen und wissenschaftlichen Themen hatte. Allerdings war eine Promotion für mich lange Zeit ein unerreichbares Ziel. Als ich mein Bachelorstudium begonnen habe, war es für mich schon eine große Herausforderung, überhaupt das Studium aufzunehmen. Die akademische Welt schien weit entfernt und unnahbar, gerade weil ich aus einem Nicht-Akademikerhaushalt komme. Erst während meines Masterstudiums hat sich mein Blick auf eine wissenschaftliche Karriere verändert. Ein entscheidender Moment war die Begegnung mit meinen Professoren, insbesondere Prof. Obergrießer und Prof. Linner, die mich beide ermutigt haben, über eine Promotion nachzudenken. Sie haben in mir das Potenzial gesehen, in der Forschung etwas zu bewegen, und mich auf meinem Weg bestärkt. Durch ihre Unterstützung und das Vertrauen, das sie mir entgegengebracht haben, habe ich schließlich den Entschluss gefasst, diesen Weg zu gehen. Rückblickend war es eine Entscheidung, die ich vorher nicht für möglich gehalten hätte, aber dank der richtigen Förderung und meines eigenen Engagements wurde sie realisierbar.
Welche Hürden mussten Sie auf ihrem Weg überwinden und gab es Momente, in denen Sie gezweifelt haben, ob dies die richtige Entscheidung ist?
Merve Karamara: Es gab viele Hürden, sowohl finanzieller als auch emotionaler Natur. Als jemand, der aus einem Nicht-Akademikerhaushalt kommt, fehlte mir oft das Netzwerk oder das Wissen, wie man sich in der akademischen Welt bewegt. Ich musste mir vieles selbst erarbeiten und auch die Angst überwinden, nicht dazuzugehören oder nicht gut genug zu sein. Besonders am Anfang meiner Promotion habe ich oft gezweifelt. Der Druck, in einem so spezialisierten Feld erfolgreich zu sein, kann überwältigend sein. Es gab Momente, in denen ich dachte, dass ich vielleicht doch nicht die richtige Entscheidung getroffen habe. Aber am Ende hat mich immer der Gedanke daran bestärkt, warum ich das tue und was ich erreichen möchte.
Wurden Sie aufgrund ihrer türkischen Wurzeln schon einmal benachteiligt oder gar diskriminiert im beruflichen Kontext?
Merve Karamara: Leider ja, das ist schon vorgekommen. Es gibt immer wieder Momente, in denen ich das Gefühl habe, dass ich mich aufgrund meiner Herkunft oder meines Namens mehr beweisen muss als andere. In der Baubranche, die sehr konservativ ist, bin ich oft nicht nur als Frau, sondern auch als Person mit Migrationshintergrund doppelt gefordert. Es passiert auch subtiler, in Form von Vorurteilen oder unbewusster Voreingenommenheit. Aber ich habe gelernt, damit umzugehen, und lasse mich davon nicht entmutigen.
Woran forschen Sie derzeit an der OTH Regensburg und wie sieht ihre weitere Karriereplanung aus?
Merve Karamara: Aktuell beschäftige ich mich über die selektive Automatisierung von Bauprozessen im Hinblick auf ökologische und ökonomische Faktoren am Beispiel des Beton 3D-Drucks. Mein Ziel ist es, die Baubranche nachhaltiger und innovativer zu gestalten. In Zukunft möchte ich in der Forschung weiter Fuß fassen, aber auch in der Praxis tätig sein, um sicherzustellen, dass die wissenschaftlichen Erkenntnisse tatsächlich Anwendung finden. Ich sehe mich in einer Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Industrie, wo ich mithelfen kann, nachhaltige Lösungen in den Baualltag zu integrieren.
Was müsste sich ändern, damit mehr „Arbeiterkinder“ ihrem Beispiel folgen und eine wissenschaftliche Karriere einschlagen?
Merve Karamara: Es bräuchte mehr Unterstützung auf mehreren Ebenen. Zum einen müssen Schulen und Universitäten gezielter aufzeigen, dass ein Studium für alle zugänglich ist, unabhängig vom sozialen oder kulturellen Hintergrund. Mentorenprogramme könnten hierbei eine wichtige Rolle spielen, um jungen Menschen aus Arbeiterfamilien Orientierung zu geben. Außerdem müssten finanzielle Hürden weiter abgebaut werden, beispielsweise durch bessere Stipendienprogramme. Schließlich braucht es auch in der Gesellschaft ein Umdenken: Wissenschaft und Forschung dürfen nicht als elitäre Bereiche wahrgenommen werden, sondern als Orte, an denen Menschen aus verschiedenen Lebenswelten zusammenkommen, um gemeinsam die Zukunft zu gestalten.